Tatwort #6: Irgendwie – alles ist relativ

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Heute im Tatwort: ein ergreifendes Einzelschicksal. Ein Leben zwischen Party und Gosse. Grausame Brüder und der Rausch der Relativierung. Ein emotionaler Prozess und ein Urteil mit Signalwirkung.

Hintergründe: eine Wortfamilie ohne Zusammenhalt

Weit draußen, im Hinterland von Relativien, leben die Irgends in trügerischer Harmonie. Sie betreiben eine Farm und bauen ihre eigenen Buchstaben und Sätze an. Die nächsten Nachbarn – viele Kapitel entfernt. Hunderte leere Seiten trennen die Irgends von der Zivilisation.

Als die Sprachanwaltschaft einen Haftbefehl gegen Irgendwie erlies, wurde manchen Ermittlern angst und bange: „Ich geh da nicht ohne kugelsichere Schrift hin!“ – „Diese Irren sind doch bis auf die Serifen bewaffnet!“, so schallte es aus allen Ecken der Sondereinheit.

Tatsächlich erfolgte die Festnahme von Irgendwie ohne größere Zwischenfälle. Das überraschte die Behörden, kam es doch im Frühjahr letzten Jahres noch zu folgenreichen Krawallen als man die Ländereien der Irgends betrat: Radiergummis flogen in Richtung der Einsatzkräfte, ein Beamter verlor eine Silbe.

Doch diesmal war alles anders: Bereitwillig lieferte die Wortfamilie Irgendwie aus. Irgendwo und Irgendwann beschimpften ihn gar bei der Festnahme: „Elender Schnorrer, geschieht dir recht!“ 1984 war man noch zusammen in einem Popsong aufgetreten, heute hängt der Haussegen offensichtlich schief.

Prozess: die bewegende Vergangenheit von Irgendwie

Textanwältin Explizitovic eröffnet die Verhandlung mit einer erbarmungslosen Anklageschrift: Der Beschuldigte sei ein ehrenloser Relativierer ohne jedes Gewissen. Schwere Verstöße gegen das allgemeine Konkretisierungsgebot und mutwillige Bedeutungszerstörung seien sein täglich Brot. Sie fordert ein lebenslanges Textverbot, das in einem Hochsicherheitssatz vollstreckt werden soll.

Richter Textgut erteilt Irgendwie das Wort und bittet ihn, sich zu rechtfertigen. Was er berichtet, ist eine ergreifende Lebensgeschichte:

„Zunächst muss ich Ihnen sagen: Ich gebe alles zu! Aber bitte verstehen Sie, ich kannte nie etwas anderes als das Relativieren. Früher war das in Ordnung – man benutzte uns Irgends in wörtlicher Rede oder Popsongs. Wie sie alle wissen, ist das ja legal. Doch dann wurde alles anders.

1984 waren wir auf dem Höhepunkt unserer Wortkarriere. Mit dem Hit ‚Irgendwie, irgendwo, irgendwann‘ waren wir auf einmal en vogue und feierten die wildesten Partys. Doch dann haben mich meine Brüder verraten.“

Irgendwie bricht in Tränen aus und sein Anwalt beruhigt ihn.

„Als man einen internationalen Hit aus uns machte, wurde ich einfach zurückgelassen. ‚Anyplace, anywhere, anytime‘ schallte es aus den Lautsprechern. Mein eigener Bruder Irgendwo hatte mich aus dem Trio verbannt und nahm meinen Platz ein, indem er sich selbst verdoppelte. Und das alles bloß, weil meine englische Übersetzung nicht zu den anderen passte.

Was wurde aus mir? Ich musste mein Dasein von nun an in der wörtlichen Rede minderbemittelter Wortballspieler fristen. Ich war ganz unten angekommen und stagnierte in meiner Entwicklung – verstoßen von meinen eigenen Brüdern. Mein Relativierungsrausch wurde zur Sucht. Es war das Einzige, was ich jemals kannte und konnte. Ich wünschte, das wäre alles niemals passiert.“

Schlussplädoyers: eine Herausforderung für die moderne Textsprechung

Textanwältin Explitzitovic beginnt mit ihrem Schlussplädoyer:

„Was der Angeklagte erleben musste, ist natürlich traurig. Doch Unwissenheit schützt vor Strafe nicht und erst recht tut das kein Rauschzustand. Im Textstaat zählt nicht, wo man herkommt. Es zählt, was man daraus macht. Und was der Angeklagte getan hat, war falsch.

Ich fordere daher weiterhin ein lebenslanges Textverbot. Angesichts der mildernden Umstände verzichte ich allerdings auf die Verwahrung in einem Hochsicherheitssatz.“

Irgendwies Anwalt hat in seinem abschließenden Plädoyer einige Einwände:

„Zunächst verlange ich für meinen Mandanten eine Verurteilung gemäß dem Jugendsprachrecht. Zum einen wird er vornehmlich als Füllwort juveniler Sprache gebraucht und außerdem ist er selbst seit 1984 in seiner eigenen Entwicklung stehen geblieben.

Vergessen wir nicht die Traumata, die ihm seine eigene Familie zugefügt haben. Viele Wörter, die auf die schiefe Bahn geraten, können von seinem Fall lernen. Ich fordere daher die Unterbringung in einer Entzugsklinik.“

Urteil: ein Spagat zwischen Sühne und Nachsicht

Der ehrenwerte Richter Textgut denkt lange nach und verkündet schließlich das Urteil:

„Im Namen des Wortes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird gemäß dem Jugendsprachrecht zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Diese ist in einer Entzugsanstalt zu vollstrecken und darf nach vollständiger Genesung zur Bewährung ausgesetzt werden. Im Gegenzug verpflichtet sich der Angeklagte, auf Lebenszeit an den Treffen der Anonymen Relativierer teilzunehmen.

Des Weiteren integriert er sich in gemeinnützige Projekte, die Jugendsprachtaten präventiv entgegenwirken. Ich hoffe, auf diese Weise profitieren kommende Generationen von seinem Erfahrungsschatz und lernen aus seinen Fehlern.

Die Familie Irgend wird eingehend untersucht. Es ist zu prüfen, ob sie ihre Nachkommen bedeutungsverzerrend erzieht. Weitere Ermittlungen werden umgehend eingeleitet. Die Verhandlung ist geschlossen.“

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