Tatwort #2: Ganz – der Täter mit zwei Gesichtern

tatwort kolumne

Heute im Tatwort: Über mehrere Jahre führte Ganz die Wortermittler an der Nase herum. Seine zweifache Bedeutung gab den Fahndern lange Zeit ein Rätsel auf. Doch diese Woche endete sein doppeltes Spiel. Spannende Ermittlungen und ein lang erwarteter Prozess. Proteste und Demonstrationen bis zum Urteilsspruch. Eine Chronik schier unfassbarer Ereignisse.

Hintergründe: die Straffreiheit verzichtbarer Verstärker

Aus dem Artikel Füllwörter vermeiden: Blinddarm Deiner Texte oder Salz in der Suppe? kennen unsere regelmäßigen Leser bereits die Klassifizierungen verschiedener Füllwörter. Laut Textgesetzbuch machen sich nur bedeutungsleere Blähwörter strafbar, da sie prägnante Aussagen relativieren. Verzichtbare Verstärker hingegen agieren weiterhin in allen Textarten und sehen sich keiner Strafverfolgung ausgesetzt.

Viele Wortrechtler empfinden das als ungerecht und gehen weiterhin wegen dieser vermeintlichen Missstände der Rechtsprechung auf die Straße. Auch wenn man in dieser Frage geteilter Meinung sein kann, ist eines gewiss: Der Angeklagte Ganz gehört beiden Gruppen an und machte sich diesen Umstand schamlos zunutze.

Ermittlungen: das verstörende Doppelleben des Ganz

Nachbarn und Freunde kannten ihn als nettes und gesetzestreues Wort. „Er war stets ein freundlicher und gewissenhafter Verstärker“, erinnert sich eine Nachbarin. „Niemals hätten wir geahnt, dass er im Verborgenden relativiert. Wir stehen hier alle noch ziemlich unter Schock.“

Tagsüber sieht man Ganz nur in verstärkenden Zusammenhängen: Ein ganz toller Abend, ganz viele Menschen, ganz genau – stets tritt er mit der Bedeutung „sehr“ auf. Die ist zwar in ihrer Wirkung umstritten, wird aber im Textstaat nicht strafrechtlich verfolgt (siehe oben).

Nachts jedoch erleben wir einen anderen Ganz: ganz in Ordnung, ganz nett, ganz ordentlich. Die fließenden Übergänge sind lange Zeit die perfekte Tarnung für Ganz. Bis eines Tages ein aufgeweckter Ermittler das Muster erkennt: Die Betonung macht den Unterschied, und die ist in Texten oft schwer herauszulesen. Doch nur ein betontes ganz verstärkt wirklich.

Ertappt wurde Ganz in einem Text, in dem es hieß, eine Kollegin sei ganz nett. Die Wortpolizei ahnte, dass Ganz beabsichtigt hatte, die Bedeutung abzuschwächen (Kollegin ist relativ nett). Dennoch musste man Ganz auf freien Fuß setzen. Niemand konnte seine Behauptung widerlegen, er habe verstärkend gehandelt (Kollegin ist sehr nett). Erst die späteren Betonungsermittlungen entlarvten Ganz.

Prozess um Ganz

Selten waren die Beweise so eindeutig, die Vorwürfe so unstrittig. Nur Ganz überrascht durch keinerlei Einsicht und leugnet alle Vorwürfe gegen ihn. Selbst als Richter Textgut ihn mit einem erst drei Tage alten Screenshot eines Textes konfrontiert, in dem Ganz eindeutig relativiert. „Sind sie denn nicht g-a-n-z?“, fragt Textgut den Angeklagten. „Ja natürlich, aber das war ich nicht!“

Klarheit verschafft schließlich eine Gerichtspsychologin. Sie verbrachte mehrere Stunden mit dem Angeklagten Ganz. Ihr Gutachten bringt eine verblüffende Erkenntnis: Ganz leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung (multiple Persönlichkeitsstörung). Es gab sie also beide: den gesetzestreuen Verstärker und den perfiden Relativierer.

Mit Spannung wurde der Urteilspruch erwartet. In der Zwischenzeit kam es erneut zu Ausschreitungen und Demonstrationen.

Proteste am Rande der Eskalation

In der Debatte um die Strafverfolgung potenzieller Blähwörter stehen sich aktuell zwei große Meinungslager gegenüber. Dass alle bisherigen Füllwortdelikte pauschal legalisiert werden sollten, fordert die Gruppierung Bläh Lives Matter. Das Gegenlager fordert noch strengere Füllwortregeln und eine konsequente Strafverfolgung.

Doch diese Gegenbewegung genießt einen äußerst schlechten Ruf: Auch während der jüngsten Proteste mischten sich wieder zahlreiche Wortradikale und Querwörtler unter die friedlichen Demonstranten. Sogar Reichswörtler wollen Beobachter gesehen haben. Ein Sprecher der Füllwortgegner berichtet: „Leider können wir das nicht verhindern. Da hinten habe ich sogar einen Flachwörtler gesehen – doch ich kann ihm nicht verbieten, mit uns zu demonstrieren. Uns geht es aber nur um eine angemessene Blähwortpolitik.“

Urteilsverkündung: politischer Umbruch im Textstaat?

Das mit Spannung erwartete Urteil des ehrenwerten Richters Textgut erhalten Sie hier wie immer in voller Länge:

„Im Namen des Wortes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte Ganz wird mit sofortiger Wirkung der Klinik für Psychiatrie in Worthausen überstellt. Wir haben es hier mit einer Dissoziation zu tun, die keine Haftstrafe heilen kann. Auch nach seiner Entlassung darf der Verurteilte nur unter Zuhilfenahme einer ausführlichen Textanalyse in Texte eindringen. Darüber hinaus wende ich mich mit einem dringenden Gesuch an den obersten Worthof.“

Im Gerichtssaal könnte man eine Stecknadel fallen hören. Bereits im Fall Also überraschte Textgut mit einem weisen und fortschrittlichen Urteil. Setzt das Gesuch des Richters erneut neue Maßstäbe in der modernen Textsprechung?

Richter Textgut wird in der Urteilsbegründung zum Märtyrer

„Die aktuelle Rechtsprechung in unserem Textstaat ist rückschrittlich und überholungsbedürftig. Zu sehr konzentrieren wir uns auf die Herkunft der Blähwörter, aber ist ihre Wirkung nicht viel wichtiger? Verzichtbare Verstärker operieren unter dem Deckmantel ihres Status und begehen ungesühnt Bedeutungshinterziehung. Bedeutungsleere Blähwörter stehen unter Generalverdacht und werden fast automatisch zu Problemwörtern.

Oft erlebe ich bedeutungslose Blähwörter mit Mehrwert für die Textqualität, manchmal begegnen mir verzichtbare Verstärker mit keinerlei Vorteilen für den Leser. Wir pauschalisieren beide Gruppen in unserer Rechtsprechung, statt zu differenzieren. Im Fall des Ganz erkennt man das gut am Beispiel „ganz außergewöhnlich“: Obwohl Ganz hier als Verstärker fungiert, ist er überflüssig. Denn das Adjektiv „außergewöhnlich“ bedarf keiner Verstärkung.

Die Pauschalisierungen unserer aktuellen Rechtsprechung wird man eines Tages als töricht und kurzsichtig bezeichnen. Das ist nicht die Welt, die ich meinen Silben und Enkelsilben hinterlassen möchte.

Ich richte mich daher mit einer Petition an den obersten Worthof. Ich fordere sowohl die Strafverfolgung verzichtbarer Verstärker als auch eine differenzierte Beurteilung der bedeutungsleeren Blähwörter. Sollte meinem Gesuch nicht stattgegeben werden, lege ich mit sofortiger Wirkung mein Amt als Richter nieder.

Brüder und Schwestern, lasst uns nicht länger Teil des Problems sein, sondern Teil der Lösung. Zusammen machen wir die Welt zu einem prägnanteren Ort. Die Sitzung ist geschlossen.“

Wird Richter Textgut mit seiner Petition Erfolg haben? Stehen wir vor der bedeutendsten Änderung in der modernen Textsprechung seit Abschaffung der unwiderruflichen Backspace-Strafe? Die neuesten Entwicklungen und den aktuellsten Prozess erhalten Sie wie immer im neuen Tatwort.

Werde Teil des Umbruchs! Das Textanalyse-Tool der WORTLIGA markiert alle potenziellen Blähwörter; doch Du entscheidest selbst, welche davon dir einen Mehrwert liefern, und welche nicht.

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